Die Erde als Untertan? Der Geowissenschaftler Reinhold Leinfelder fordert ein Umdenken für das Leben im Anthropozän
News vom 14.05.2021
Englische Version: Dominion Over the Earth? Geoscientist Reinhold Leinfelder urges rethinking our role as humans in the Anthropocene era
Von Catarina Pietschmann
„Das ist nicht mehr das Erdzeitalter, wie wir es kennen. Nicht mehr das Holozän – sondern ein Anthropozän!“ Vor 20 Jahren rief der niederländische Atmosphärenchemiker Paul Crutzen dies bei einer Konferenz seinen Kolleginnen und Kollegen zu. Und so wurde quasi eine Erdepoche, die durch tiefe Einschnitte des Menschen in das Erdsystem geprägt ist, aus der Taufe gehoben. Als Paul Crutzen im Januar dieses Jahres starb, war seine anfangs umstrittene These längst wissenschaftlich anerkannt. Nur über den Zeitpunkt, wann sich der menschliche Einfluss auf diese Weise manifestierte, streiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler noch.
Geowissenschaftler wie Geobiologe und Anthropozänforscher Professor Reinhold Leinfelder von der Freien Universität Berlin sind der Ansicht, es sei Mitte der 1950er Jahre gewesen. Zur Zeit der größten Beschleunigung sozioökonomischen Wachstums und der damit verbundenen Ablagerung von „Technofossilien“ – elementarem Aluminium, Beton- und Ziegelfragmenten sowie Plastik. Archäologinnen und Historiker denken eher, es habe angefangen, als Homo sapiens begann, Werkzeuge zu benutzen und sesshaft wurde.
„Aus geologischer Sicht wäre das ein Prä-Anthropozän. Die entscheidende Frage ist jedoch: Wie kann der Mensch sich so in das Erdsystemintegrieren, dass es ihn mitträgt?“, sagt Reinhold Leinfelder. Er ist Mitglied der „Anthropocene Working Group“ (AWG), einer internationalen Forschungsgruppe, die verschiedene Disziplinen vereint, von Geowissenschaften, Ökologie, Geschichte, Philosophie bis zum Völkerrecht. Die AWG arbeitet an einer Bestandsaufnahme anthropogener Veränderungen auf der Erde seit der letzten Eiszeit vor etwa 12000 Jahren, die Grundlagen für Lösungsansätze schaffen soll.
Bald mehr „Technikspezies“ als natürliche Organismen
Bevor der moderne Mensch sich „einbrachte“, war die Biosphäre des Planeten das Produkt der Evolution. „Inzwischen haben wir der Biosphäre – bedingt durch den technischen Fortschritt, der mit unserer kulturellen Entwicklung einhergeht – eine riesige Technosphäre hinzugefügt“, sagt Reinhold Leinfelder. Auch dabei fand eine Art Evolution statt: von der Erfindung des Rades bis zum autonomen Fahrzeug, von der Buschtrommel bis zum Smartphone. „Rechnet man alle ,Technikspezies‘ zusammen, könnten wir etwa so viele erschaffen haben, wie es an fossilen und lebenden Arten von Organismen auf der Erde je gegeben hat“, sagt der Geobiologe.
Aus 12 000 Kilo Gestein werden gerade mal 4 Gramm Gold gewonnen
Damit der Planet uns und unsere Technik trägt und aushält, müssten nachhaltige Konzepte im großen Stil her. Reinhold Leinfelder denkt an eine Kreislaufwirtschaft nach dem Vorbild der Biosphäre. „Alle Ökosysteme sind von einer erneuerbaren Primärenergie abhängig – der Sonne“, erläutert Reinhold Leinfelder. „Ihr Licht liefert die Energie zum Wachstum der Pflanzen. Sie werden von Tieren gefressen und diese wiederum von anderen, größeren.“
Wenn Lebewesen sterben, werde ihre Biomasse von sogenannten Destruenten zersetzt – Bakterien, Pilze und allerhand winziges Getier –, welche dann über den Boden die verwertbaren Nährstoffe den Pflanzen wieder zur Verfügung stellten. „Genau das aber machen wir mit den Objekten der Technosphäre leider nicht.“ Ganz im Gegenteil, wie ein Extrembeispiel zeigt: Um an vier Gramm Gold für einen Ring zu gelangen, müssen heute 12 000 Kilo Gestein abgebaut und zerkleinert werden – nur etwa ein Fünftel davon ist erzhaltig. Das Edelmetall wird unter Verbrauch von viel Wasser, giftigen Zyaniden und Quecksilber herausgelöst. „Zurück bleiben Abraumhalden und eine dramatische Umweltverschmutzung.
"Ein Overkill an Material für wenig Produkt“, sagt Reinhold Leinfelder. Israelische Kolleginnen und Kollegen haben ausgerechnet, dass der Mensch derzeit rund eine Billion Tonnen (1 000 000 000 000!) Material aus der Lithosphäre in Gebrauch habe: Sand und Gestein für den Hausbau, Metalle für Maschinen, Verkehrsmittel und allerlei nützliche Technik vom Besteck bis zum Laptop. Addiere man, was zusätzlich weggesprengt werden musste, um an das begehrte Material zu gelangen, sei es insgesamt das Siebenfache. „Nimmt man alles zusammen, was der Mensch jemals bewegt und umgewandelt hat, sind es 30 Billionen Tonnen. Das nennen wir die Technosphäre“, erklärt Reinhold Leinfelder. Die natürliche Verwitterung von Gestein ist gleichsam ein Witz dagegen.
Schon beim Bauen und Herstellen kann das Recyceln eingeplant werden
Der Mensch ist zum geologischen Faktor geworden – und von einer erdverträglichen Kreislaufwirtschaft weit entfernt. Es der Biosphäre gleichzutun, hieße, bei der Primärenergie anzusetzen und statt fossiler Energieträger ausschließlich erneuerbare Quellen zu nutzen. Dies wird bereits angegangen. „Was das Destruieren, also das Recyceln, angeht, stehen wir ganz am Anfang. Klar, Gold lässt sich erneut einschmelzen und seltene Erden aus Smartphones wiederverwenden. Das Problem ist ein ökonomisches: Solange es teurer ist zu recyceln, als etwas neu aus der Natur zu entnehmen, macht man es nicht“, sagt Reinhold Leinfelder. „Dabei lässt sich schon bei Herstellung und Zusammenbau von Technik das Zerlegen einplanen.“
Ein anderes Beispiel sei das „Urban Mining“: Nach Abriss eines Hauses könnten die Bausteine zermahlen und dem Beton für Neubauten zugesetzt werden. Das Zermahlen koste zwar Energie, sei aber allemal besser als Bauschutt auf Deponien zu bringen und so dem Kreislauf zu entziehen. „Man könnte auch gleich anders bauen und nachhaltige Baustoffe einsetzen.“ Zum Bauen geeigneter Sand sei inzwischen ohnehin äußerst knapp.
Gut, dass eine natürliche Ressource wohl unerschöpflich ist – der menschliche Verstand. Inzwischen setzen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vieler Fachrichtungen mit dem Anthropozän auseinander, analysieren Sachverhalte aus ihrer Perspektive und entwickeln neue Technologien und Konzepte. Doch neben den notwendigen wissenschaftlichen „Tiefbohrungen“, die jede Disziplin vornehmen müsse, brauche es verstärkt Querverbindungen, konstatiert Reinhold Leinfelder. Entsprechende Leuchtturmprofessuren könnten Initialzünder dafür sein.
„Die Erde ist systemisch. Alles hängt mit allem zusammen, und alles reagiert miteinander. Ob das nun der Boden ist, dem viele anthropogene Einflüsse gleichzeitig zusetzen – und plötzlich ist ein Kipppunkt erreicht – oder das gesamte Erdsystem“, sagt Reinhold Leinfelder. „Deshalb brauchen wir eine neue Forschungskultur. Und wahrscheinlich auch eine neue Form der Lehre an Universitäten.“
Nr. 220/2021 vom 21.04.2021
Tagesspiegel-Beilage vom 24. April 2021